Die Wiederaneignung der Wirklichkeit La Part de l'Ombre: Laurent Joliton (2015)
Von Kai U. Jürgens
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wer 2012 die documenta 13 besucht hat – und das werden vermutlich auch aus dieser Runde nicht wenige sein –, hatte Gelegenheit, sich von einer großen Anzahl abwechslungsreicher Kunstwerke berühren, verstören oder auch langweilen zu lassen. Die Arbeiten boten eine spezifische Perspektive auf die Gegenwartskunst und waren nicht zuletzt in der Auswahl ihrer Materialien ausgesprochen erfinderisch; dabei zeigte sich einmal mehr, welche Möglichkeiten offenstehen, wenn die Kreativität des Individuums und die Forderungen der Wirklichkeit in ein inspiriertes Spannungsverhältnis geraten. Eins aber konnte man auf der documenta 13 mit Sicherheit kaum finden, und das war Malerei. Genau genommen gab es auch sonst wenig im klassischen Sinne Bildhaftes zu sehen, Zeichnungen ließen sich ebenfalls kaum finden. Ganz offensichtlich wurde anderen Aspekten der Gegenwartskunst der Vorzug gegeben. Das ist durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, wie sehr die Malerei seit einigen Jahren ins Hintertreffen geraten ist. Jenseits etablierter Größen wie Gerhard Richter oder Georg Baselitz, Neo Rauch oder Peter Doig scheint es einigermaßen unmodern zu sein, Farbe, Pinsel und Leinwand heranzuziehen, um im 21. Jahrhundert eine gültige Aussage über die Welt zu treffen. Die Gegenwart scheint andere Maßnahmen zu erfordern, um bewältigt werden zu können; traditionellen Werkzeugen wird dabei – so scheint es – weit weniger vertraut.
Doch dieser Eindruck täuscht. Natürlich wird noch gemalt, und natürlich sind Farbe, Pinsel und Leinwand noch immer treffliche Instrumente bei der Darstellung der Welt. Tatsächlich kann man in dem, was ihr Nachteil zu sein scheint, auch einen Vorteil sehen. Malerei ist ein langwieriger Kreativitätsprozess. Das beginnt schon mit der Vorbereitung der Leinwand und führt über das Anmischen und Auftragen der Farben bis hin zu deren Trocknungsprozess; zeitraubende Überarbeitungen sind nicht selten die Folge. Dem gegenüber steht eine Welt, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit wandelt und die den Einzelnen tagtäglich mit einer verwirrenden Folge an Eindrücken konfrontiert, der genau genommen gar nicht Herr zu werden ist. Als Folge müssen wir auswählen, welchen Eindrücken wir mentalen Raum zur Entfaltung zubilligen wollen, anstelle sie einfach nur beiseite zu wischen.Genau dies macht Laurent Joliton in seiner Malerei. Der in Frankreich lebende Autodidakt, der seit 1999 an Ausstellungen beteiligt ist und mit La Part de l'Ombre hier in der Galerie Ulrike Petschelt seinen ersten, lange erwarteten Auftritt in Deutschland hat, erarbeitet Motive, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Badende sind da zu sehen, Kinder mit spielerisch verbundenen Augen oder ein für arktische Temperaturen gerüsteter Skiläufer. Ein anderes Bild zeigt eine gewalttätige Situation um zwei junge Männer, die Zwillen oder Steinschleudern benutzen, während eine dritte Person am Boden liegt und im Hintergrund kleine flackernde Feuer zu sehen sind – mutmaßlich eine Szene aus einer Krisenregion; der Titel émeute – Unruhe, Aufruhr – bestätigt diesen Eindruck. Doch es gibt auch ein Gemälde mit einer jungen Frau, die mit geschlossenen Augen und wehendem Haar recht unglamourös getroffen ist, in der man jedoch fraglos Norma Jean Baker erkennen kann – besser bekannt als Marilyn Monroe. Damit ist unter den zumeist anonymen Figuren, die auf den Bildern dargestellt sind, zumindest eine, die wir kennen und die eine gewisse Orientierung verheißt, zeigt sie doch, dass Joliton gern mit medialen Versatzstücken arbeitet, mit Fundstücken aus dem Internet etwa, die er auswählt und neu interpretiert. Drei Dinge fallen dabei auf: Die Uneinheitlichkeit, mit der die Bilder nebeneinander stehen, die Unmöglichkeit, ihre Vorlagen zu identifizieren und schließlich die überraschende stilistische Geschlossenheit, über die die Gemälde verfügen.
Dass Joliton seine Motive aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen bezieht, ist offensichtlich, wenn Badende neben Kämpfenden zu sehen sind. Dabei ist es schwer auszumachen, auf welche konkrete Situation sich das jeweilige Bild bezieht. Mit Ausnahme von Norma Jean Baker kennt man die Personen nicht, die zu sehen sind, und kann auch die sie umgebenden Situationen nur bedingt nachvollziehen. Dieselbe Orientierungslosigkeit findet sich in unserer medial geprägten Überwältigungskultur, deren Undurchschaubarkeit Joliton aufgreift; seine Gemälde zeigen nicht die Welt, sondern deren reproduzierte fotographische Abbilder, die ohne Kontextkenntnisse unverständlich sind und uns genau mit dieser Unverständlichkeit auch präsentiert werden. Aus diesem Grund ist es auch nicht erforderlich, die Vorlagen zu kennen, um über sie vermeintlich tiefere Zusammenhänge zu erschließen. Es geht nicht um Dechiffrierung, sondern um die Akzeptanz eben jener Rätsel und Geheimnisse, die uns fortwährend umgeben, und denen mit den Gemälden eine bestimmte ästhetische Form gegeben wird.
Auf dieser Ebene finden die Arbeiten dann auch zu jener Einheit, die ihnen inhaltlich fehlt. Jolitons Stil und die reduzierte Farbgebung, die nur punktuell auf bisweilen grelle Akzente setzt, wirken als Bindeglieder und stiften Geschlossenheit. Plötzlich wird doch eine Ganzheit hinter den
unterschiedlichen Motiven erkennbar, die sich auch als Halt im Haltlosen beschreiben lässt. Schließlich ist es der Künstler, der diese Einheit erzeugt, indem er die Vorlagen mit seinem Stil bearbeitet und damit aus dem Bereich des Unpersönlichen und Anonymen in den des Individuellen und Einzigartigen überführt. Plötzlich werden aus beliebigen Internetfundstücken Unikate, die die austauschbaren Szenerien einen besonderen Status verleihen. Mittel hierzu ist die Malerei. Auffällig ist ja nicht nur die fast monochrom gehaltene Tönung, sondern auch die Unschärfe, die es manchmal schwer macht, zwischen einer Figur und ihrer Umgebung zu unterscheiden. Hierin lässt sich eine Tendenz zur Abstraktion ablesen, aber auch der Wille, die Motive wie eine private Erinnerung erscheinen zu lassen, ausgefranst und ungenau, um ihnen eine persönliche Note zu verleihen und jene Einmaligkeit zurückzugeben, die die Bilder im medialen Vervielfältigungsprozess verloren hatten. Die Malerei von Laurent Joliton ist damit auch ein Versuch, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und die Deutungshoheit über die Welt zurückzugewinnen – so unverständlich und widerspenstig sich diese Welt auch geben mag.
Dass der Künstler dies mit den Mitteln der angeblich so schwerfälligen, so unmodischen und so überholt wirkenden Malerei unternimmt, ist nicht ohne Ironie. Das Unterfangen zeigt aber, welches Potential noch immer in dem Medium steckt – wenn sich wie in diesem Fall jemand findet, der virtuos mit ihm umzugehen weiß.
Ich danke Ihnen.